Walter Becker 1893-1984 Malerei und Grafik

Ingrid von der Dollen

 

Rezension von Maximilian v. Koskull

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6. Band der Neuen Monografischen Reihe
Edition Joseph Hierling
Tutzing, 2015
136 Seiten
ISBN 978-3-925435-26-3

 

 

Ingrid von der Dollens Publikation zu Walter Becker erscheint als sechster Band der „Neuen Monografischen Reihe“, veröffentlicht durch den „Förderkreis Expressiver Realismus e.V.“. Zuvor erschienen in dieser Reihe Monografien zu den Künstlern Günter Fink (2008), Hans Schellinger (2010), Max Wendl (2011), Georg Lesehr (2011) und Hans Olde d. J. (2012). Verbindendes Element dieser behandelten Künstler ist eine Bildkunst, die mit dem Begriff des ‚Expressiven Realismus‘ umschrieben werden kann und sich vornehmlich bei jenen Künstlerinnen und Künstlern findet, welche Rainer Zimmermann in seinem 1980 erschienen Standardwerk als „verschollene Generation“ bezeichnet¹. Auch der 1893 in Essen geborene Walter Becker ist diesen ‚kunstgeschichtlich Übergangenen‘ zu zurechnen.

Mit Ingrid von der Dollens Monografie wird erstmals umfassend das Leben des Künstlers dargestellt und dessen Werk kunsthistorisch eingeordnet². Die Autorin gliedert die Arbeit in vier, chronologisch aneinander anschließende Kapitel, die jeweils nochmals aus einzelnen Unterabschnitten bestehen. Durchgehend begleitet wird der Text durch zahlreiche, passend ausgewählte Abbildungen von Werken Beckers.

In dem ersten Kapitel „Der Grafiker“ (7-38) wird das familiäre Umfeld dargestellt, das für eine künstlerische Laufbahn keinesfalls als günstig anzusehen ist. Dennoch besuchte Becker von 1910 bis 1913 Abendkurse an der Essener Kunstgewerbeschule und ließ sich zum Gebrauchsgrafiker ausbilden. Den zwangsläufigen Kriegsdienst erlebte er nur kurzzeitig, da er 1915 gesundheitsbedingt aus dem Heer ausschied und im Anschluss daran die Kunstakademie Karlsruhe besuchte. Dort machte er die prägende Bekanntschaft mit Karl Albiker (1878-1961). In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg stellten sich die ersten künstlerischen Erfolge ein.
Bevor Becker 1922 seinem Freund Albiker an die Dresdner Akademie folge, um dort bis 1923 dessen Meisterschüler zu sein, fand noch ein ‚avantgardistisches Zwischenspiel in Karlsruhe‘ in Form der Künstlergruppe „Rih“ statt (16-22). Neben u.a. Wladimir von Zabotin und Rudolf Schlichter gehörte auch Walter Becker dieser Gruppe an. Ingrid von der Dollen beschreibt dabei mit oftmaligem Verweis auf anschauliche Quellen die Tätigkeiten und das Programm dieser kurzlebigen Gruppe. Speziell zu Becker ist dabei interessant zu lesen, wie die Autorin eine Verbindung zum Psychiater Hans Prinzhorn und dessen „Einbeziehung der Schöpfungen von Kindern und Kranken“ (18) herstellt und diese dann anhand von Aquarellen Beckers erläuternd vertieft.
1923 heiratet Becker die Adoptivtochter Leo von Königs, Yvonne von König, geborene Tardif, und übersiedelt mit ihr, nach einem kurzen Aufenthalt in Berlin, nach Südfrankreich. Bis 1936 war Cassis-sur-Mer Wohnort des Paares (26-38). Walter Becker war weiterhin als Illustrator tätig³ und malte nachweislich auch Gemälde, obgleich sich aus dieser Schaffensphase nur wenige Bildbeispiele hierzu finden lassen. Das Paar unterhielt zu dieser Zeit Kontakt zu zahlreichen Personen aus dem Kunst- und Kulturbereich. Die Autorin spürt hierzu verschiedenen Verbindungen zu u.a. Marcel Sauvage, Thomas Mann, George Grosz, Jules Pasin nach, und kann dadurch die für Becker ‚schönsten Jahre seines Lebens‘ dem Betrachter auf eine lebendige Weise nahebringen.

Das zweite Kapitel „Die erste Phase des malerischen Schaffens“ (39-67) umfasst die Zeitspanne von der Rückkehr nach Deutschland 1936 bis 1958. Nachdem sich die wirtschaftliche Lage verschlechterte, verließen die Beckers Südfrankreich und wohnten anfangs in München, Utting und Bühl, bevor sie sich 1938 in Tutzing niederließen. Die Kunstpolitik des Dritten Reichs wirkte sich auch unmittelbar auf den Künstler aus, war doch sein künstlerischer Ausdruck nicht konform mit der staatlicherseits gewünschten und geförderten Kunst. Neben abgelehnten Wettbewerbsbeiträgen (39), einer von den Obrigkeiten verhinderten Professur in Karlsruhe 1941 (40), wurden auch Werke aus Museumsbesitz im Zuge der „Entarteten Kunst“-Aktion beschlagnahmt, so dass von der Dollen für das künstlerische Schaffen festhält: „Tatsächlich scheint sich damals Walter Becker, den Ratschlägen des Schwiegervaters folgend, vorübergehend unverfänglichen Stils bedient zu haben, denn mehrere Porträts in konventioneller Manier finden sich inmitten des von ‚modernem‘ Formenvokabular gekennzeichneten Werks“ (40). Biografisch interessant ist für diese Zeit die Bekanntschaft mit dem Cellisten Ludwig Hoelscher und dessen Frau Marion (40). Die Autorin arbeitet hierbei und auch in späteren Kapiteln heraus, welch bedeutsame Rolle diese im Leben des Künstlers einnahmen (68, 104).
1951 kam der Ruf der Karlsruher Akademie erneut und Becker trat mit zehnjähriger Verzögerung die Stelle an, die er dann bis 1958 behalten sollte (61ff.). Zwischen die beginnenden 1940er Jahre und die Professorenzeit in Karlsruhe fügt von der Dollen ein Unterkapitel ein, in dem sie ‚französische Reminiszenzen‘ im damaligen Schaffen des Künstlers konstatiert. Anhand zahlreicher Bildbeispiele kann es die Autorin plausibel veranschaulichen, dass „[vieles] auf den Bildern die Seherlebnisse [widerspiegelt], die Walter Becker wohl aus Frankreich mitgebracht hatte […]“ (50).
Beckers Zeit in Karlsruhe 1951 bis 1958 zeigt sowohl eine Veränderung bei der Motivwahl als auch bei der künstlerischen Umsetzung. Seine Werke weisen einen höheren Grad an Abstraktion auf, ohne aber den Bereich des Gegenständlichen zu verlassen. Zugleich beginnt er neben der Malerei auch druckgrafische Techniken (v.a Linolschnitt und Lithographie) einzusetzen. Ingrid von der Dollen geht unterschiedlichen Einflussfaktoren in dieser Phase nach und verweist dabei dezidiert auf das Werk Picassos (62f.) und Erich Heckels (64), was interessante Anstöße für weitere Überlegungen und Querverbindungen geben kann.

Das dritte Kapitel „Das Hauptwerk des Malers“ (68-103) umfasst die so schaffensreiche Dekade von 1958 bis 1968. 1958 beendete er seine Lehrtätigkeit in Karlsruhe, kehrte nach Tutzing zurück, nachdem ein Jahr zuvor seine Frau Yvonne verstorben war. Die Freundschaft zum Ehepaar Hoelscher und hierbei insbesondere zu Marion Hoelscher intensivierte sich und von der Dollen führt hierzu aus, dass es „eine beständige, einfühlsame Ermutigung zum Arbeiten [war], die Marion Hoelscher aus der Erkenntnis heraus traf, dass Walter Becker ohne zu malen in Depression versinken werde“ (68).
Näher geht die Autorin auf fünf Bildthemen dieser Phase ein. Die ersten drei, etwas kürzer behandelten Bereiche sind die ihn umgebende Landschaft (70), Tanzbilder (70ff.) und Stillleben (82f.). Ausführlicher widmet sich von der Dollen den für Becker so signifikanten ‚blauen Akten‘ (84-87) und dem Komplex ‚Mythos und Traum‘. Bei den ‚blauen Akten‘ wird die gesamte bisherige Schaffensphase Beckers überblickt und so eng seine Verbindungen zu anderen Menschen auch immer waren, „ist in seinem Werk das Thema der Einsamkeit [dennoch] als Leitmotiv zu erkennen“ (84), resümiert die Autorin. Und gerade für die Zeit von 1958-68 zieht von der Dollen die oftmals großformatigen Gemälde mit ihren blauen Akten heran, um diese These zu unterstreichen. Beziehungsprobleme zwischen den Akten, nicht stattfindende Kommunikation, oder schlicht die Unterbindung einer Kommunikation zu anderen, lassen hier die dargestellte Einsamkeit auf eine überaus einfühlsame, tiefgehende Weise erscheinen. Bilder aus dem Sujet ‚Mythos‘ greifen v.a. zurück auf die griechische Mythologie und hierbei ist es insbesondere die Odyssee, welche dem Künstler Motive liefert. Eingehender beschreibt von der Dollen mehrere Gemälde (wie bspw. „Herakles und Hydra“, „Thanatos“, „Hypnos“, „Odysseus und die Syrenen“), die der Leser auch allesamt als Farbabbildungen vor sich hat, um die Ausführungen der Autorin nachvollziehen zu können.

Das abschließende vierte Kapitel „Die letzte Schaffensphase. Die neuen Bilder des alten Malers“ (104-126) umfasst die Jahre von 1976 bis zu Beckers Tod 1984. Bereits in den 1960er Jahren litt der Künstler an einer Sehschwäche, die ab 1968 zu seiner beinahe völligen Erblindung führte. Becker stellte seine Malerei fast ein und begann damit erst wieder 1976 intensiv, zwei Jahr nach seinem Umzug in ein Seniorenstift in Dießen am Ammersee.

Als sehr gelungen erscheint die Wahl von der Dollens, das vielsagende Selbstbildnis von 1976 an den Beginn des Kapitels zu stellen. „Stilistisch mit dem groben, sichtbaren Pinselduktus noch der vorangegangenen Periode zugehörend, veranschaulicht es seine Situation: Den Zustand seiner Augen hat er durch zwei dunkelblaue, ovale Flächen als stumpfe Augenhöhlen charakterisiert; statt Pinsel und Palette zu halten, berührt er die hell leuchtende Farbfläche des Bildträgers mit der Hand“ (104). So werden Rückbezüge zu früherem Schaffen deutlich und zugleich verweist dies auch auf (zwangsläufige) Neuerungen im künstlerischen Ausdruck, wodurch es Becker in den Jahren 1977-78 abermals gelang einen erneuten Höhepunkt in seinem Schaffen zu erreichen, wie die Autorin feststellt (106).

Die behandelten Bildthemen sind nahezu identisch mit früheren Schaffenszeiten: Mythos, Straßenszenen, menschliche Paare, Tanz. Einzig die im Seniorenstift erlebte Welt (117ff.), sowie das völlige Verlassen der Gegenständlichkeit (104, 126) zeigen sich als neu.

Eine bebilderte biografische Übersicht, eine Auflistung der öffentlichen Präsentationen in Ausstellungen und Sammlungen, sowie ein Namensregister bilden das Ende des Bandes. Durchgehend gelingt es Ingrid von der Dollen dem Leser Leben und Werk Walter Beckers auf eine sehr angenehme und flüssig lesbare Weise nahezubringen, so dass diese längst fällige Würdigung des Künstlers sowohl ein begeisterndes Seh- als auch ein bereicherndes Leseerlebnis ist.

¹ Rainer Zimmermann: Die Kunst der verschollenen Generation. Deutsche Malerei des Expressiven Realismus von 1925-1975, Düsseldorf – Wien: Econ Verlag, 1980.

² Die bisherige Literatur zu Walter Becker beschränkt sich vornehmlich auf Aufsätze und Katalogbeiträge, die allein schon aufgrund ihres Umfangs zumeist eher an der Oberfläche bleiben. Eine beachtliche Ausnahme ist hierbei der das frühe Schaffen Beckers behandelnde Band „Walter Becker. Frühe Werke 1914-1933“ (Albersweiler: Edition Strasser, 2008) von Hubert Portz.

³ Ein Verzeichnis der erstellten Illustrationsfolgen findet sich im Anhang des Bandes (133f.).

Die neuere Forschung geht mittlerweile von insgesamt 19 beschlagnahmten Werken (Gemälde, Zeichnungen, Druckgrafiken) Walter Beckers aus (Christiane Ladleif / Gerhard Schneider (Hrsg.): Moderne am Pranger [Katalog zur Ausstellung], Bönen:Kettler, 2012, S. 250).

Für den Leser ist dies beispielhaft zu sehen an den Abbildungen „Drei Frauen“ (62) und „Tripelgänger“ (63).

Werke von Walter Becker im Angebot