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Weitere Werke von Walter Becker
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Verzweiflung II (1984)

Öl auf Leinwand, ohne Keilrahmen, ungerahmt
unten rechts datiert „[19]84“, sowie verso u.l. von anderer Hand nochmals datiert „[19]84“
unten rechts monogrammiert „WB“
Größe: 100,7 x 85,5cm

€ 2.500,-

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Zustand
die seitlichen Ränder (vom Künstler) sehr leicht uneben zugeschnitten; in den vier Ecken kleine Einstichlöcher; rechter Rand oben und unten leicht bestoßen

Provenienz
Nachlass des Künstlers

 

 

„In seinem Spätwerk, das seit 1976 in Dießen am Ammersee entstanden ist, hat Walter Becker die Summer seiner malerischen Existenz gezogen, in der sich Nachwirkungen des deutschen Expressionismus und Einflüsse der französischen Malerei seit Matisse zu einer Symbiose emotionalen Erlebens und harmonischer Daseinsfreude verbinden. […] Becker hat Häuser mit breiten Dächerhauben, Gärten und Straßen in Dießen gemalt, sommerliche Café-Terrassen, Ausblicke auf den Ammersee. Aber sein Hauptthema ist nicht die Landschaft, sondern die Figur, Figur nicht als Abbild eines lebenden Modells, vielmehr als Inbild der Imagination, als Phantom, das aus Traum und Empfindung geboren ist. Sein zentrales Problem ist die Überwindung der Einsamkeit im Spiel des Gefühls von Mensch zu Mensch. Er will den Augenblick staunender, dankbarer Annäherung erfassen, in dem sich seit eh und je das Mysterium des Lebens vollzogen hat. Diese geistig-sinnliche Konfrontation ist ein zeitloses Ereignis von poetischer Kraft. Das Ich wird in der Anschauung des andern seiner eigenen Tiefe gewahr“ (Wilhelm Gall (1983): Walter Becker, in: GIM Galerie Rastorfer: Walter Becker. Zum 90. Geburtstag (zur Ausstellung vom 22.09.-21.10.1983) [mit einem Text von Gerd Presler], Freiburg, S. 96).

Dieses Spätwerk Walter Beckers wird von einer argen Zäsur eingeleitet und von deren Folgen stets begleitet: die zunehmende Einschränkung der Sehkraft, die Anfang der 1970er Jahre gar zu einer fast vollständigen Aufgabe des künstlerischen Schaffens führte. Zugleich ist es womöglich auch diese Zäsur, die Beckers spätes Schaffen so heraushebt. Er selbst betont, dass er seine Malerei ganz neu überdachte und sich neu versuchte:
„Zuerst zaghaft – in alte Fehler zurückfallend – jetzt [d.h. 1976] nach etwa 25 Bildern in voller früher nie erreichter Consequenz[sic!] in Aufbau und Farbigkeit“ (Handschriftlicher Lebensbericht Walter Beckers, den dieser auf Anfrage an das Germanische Nationalmuseum sandte. Heutiger Standort ist im dortigen „Deutschen Kunstarchiv“ (DKA).)

Die dargestellten Objekte werden relativer und treten in ihrer Bedeutung gegenüber der Farbe und deren Wirkkraft zurück. Es ging Becker primär darum dem Betrachter durch die bildliche Anordnung und das Kolorit eine unmittelbare Stimmung zu vermitteln. Er selbst beschrieb es so, dass er jedes dieser späten Werke vor dem Malprozess stundenlang im Kopf bereits durchdachte. – Seine mehr als sechzigjährige Erfahrung was den Bildaufbau und die Behandlung des Kolorits angeht, sind hier deutlich als Quintessenz zu erkennen.

Das vorliegende Werk stammt aus dem letzten Lebensjahr Walter Beckers. Es wirkt in seiner Darstellung reduziert, um nicht zu sagen: minimalistisch. Vor einem diffus gräulichen Hintergrund steht eine Frau in einem markanten gelben Kleid, hat die Arme erhoben und den Mund geöffnet. Rechts und links von ihr sieht man Andeutungen von Vegetation, während ein bläulicher Streifen am oberen Rand an den Himmel oder/und Wolken denken lässt. Dieses augenfällige Kleid tritt in Beckers späterem Schaffen häufiger auf, so dass hier von einer bewusst gewählten Symbolik ausgegangen werden kann.
Aufbau und Motiv lassen vor allem an das ebenfalls späte Gemälde „Verzweiflung“ (undatiert, Abb. in: von der Dollen (2018): 131) denken, wobei dort die Landschaft stärker ausformuliert wurde. Der dortige Schrei ist quasi noch mehr in die Landschaft versetzt, während er sich im vorliegenden Werk weitaus mehr auf die Frau bezieht. Die Landschaft bleibt bei Andeutungen stehen, die farblich gesehen die Stimmung der Verzweiflung unterstützen, ohne aber den Blick von der Person als Bildzentrum zu nehmen. Becker konfrontiert hier also den Betrachter ganz konkret mit einem Gegenüber. Betrachtet man sich diese Frau, so wirkt das Kleid vordergründig elegant, doch durch die, quasi zu einem Block geformten, erhobenen Arme entsteht eine Spannung. – Die Grün- und Rottöne des Hemds mögen nicht mit der Eleganz des Kleides mitgehen, wirken vielmehr weit matter und ruhiger. Im Zentrum dieser Spannung liegt das Gesicht mit seinem zum Schrei geöffneten Mund. Der dunkel braune Hut mag zudem wie ein zusätzliches Gewicht erscheinen, welches den Kopf bzw. das Denken der Frau herabdrückt bzw. erdrückt.

Keinesfalls begeht man eine Überinterpretation, wenn man dieses Werk Beckers als malerische Darstellung eines inneren Konflikts betrachtet. Der aufgerissene Mund und auch die erhobenen Arme verweisen hierbei auf Momente der Verzweiflung, der Hoffnungslosigkeit, der Angst. Der blaue, offene Himmel, als möglicher Hoffnungsschimmer, über der Frau wird durch die Armhaltung förmlich abgegrenzt und außen gehalten. Und ebenso besteht auch keine Berührung zur Vegetation und damit zur Erde, von der das grelle Gelb – die erzwungene Eleganz, die erprobte und routinisierte Zurschaustellung – sich allein schon durch seine Wirkkraft abhebt und absondert. Fern von jeglichen temporären Ablenkungen des Alltags ist die Frau allein mit sich, mit ihrer (Lebens-)Verzweiflung. „Denn immer deutlicher zeichnet sich im Bewußtsein ab, daß alle einzelnen Angstsituationen nur Erscheinungsformen von Grundgefährdungen sind, die zur Kreatur selbst gehören und sich durch nichts vertreiben lassen. Nicht vor etwas Fremdem, Äußerem, vielmehr vor sich selber Angst zu haben, das ist menschlich und das macht den Menschen böse, wenn er für seine Angst keine Lösung weiß, die ihn als Menschen leben läßt“ (Eugen Drewermann (1988): Strukturen des Bösen [Teil 3], Paderborn et al.: Ferdinand Schöningh, S. XVIII-XIX).

Ob der angedeutete Himmel in einem solchen, angstlindernden Sinne als symbolhafte Hoffnung gedeutet werden darf, ist zweifelhaft. Es bleibt stets ein zutiefst tragisches Element im Bild zurück, das aber auch Mitleid mit dieser oberflächlich betrachtet so eleganten, so schönen Frau empfinden lässt. Und damit wäre womöglich schon sehr viel für eine lösende Wendung getan.

 

 

Zu Walter Becker (01.08.1893 Essen – 24.10.1984 Tutzing):
Quelle: http://www.walter-becker.com/Maler, Zeichner, Grafiker; Sohn des Schmieds Eduard Becker und dessen Frau Johanna, geb. Eickmeyer; 1908 Tod des Vaters; 1910-13 Abendklasse an der Kunstgewerbeschule Essen; Ausbildung zum Gebrauchsgrafiker; 1914-15 Kriegseinsatz, wobei er den Winter 1914 aufgrund von Tuberkulose im Schwarzwald verbrachtete; 1915 wurde er dann als ‚Landsturmmann ohne Waffe‘ zum Wehrdienst eingezogen und als Wachmann am Alten Durlacher Bahnhof eingesetzt; aufgrund seiner labilen Gesundheit wurde er noch 1915 vom Kriegsdienst befreit; prägende Bekanntschaft mit Karl Albiker; 1915-18 Studium an der Kunstakademie Karlsruhe (bei Walter Conz); nach dem Ersten Weltkrieg wird Becker v.a. als Illustrator bekannt (Illustrationen u.a. zu Jean Paul: Jean Paul Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei (Heidelberg, 1918); Nikolai Gogol: Der Mantel (Heidelberg, 1920); E. T. A. Hoffmann: Die Königsbraut (Potsdam, um 1920)); 1919-22 Entwürfe für die Karlsruher Majolika-Manufaktur; 1922-23 Studium an der Kunstakademie Dresden; Meisterschüler bei Karl Albiker; November 1923 Heirat mit Yvonne von König (Tochter der Malerin Mathilde Tardif und Adoptivtochter Leo von Königs); 1924-36 Wohnsitz in Südfrankreich (Cassis-sur-Mer), dort Bekanntschaft mit u.a. Georges Braque, Jules Pascin, Erika und Klaus Mann, Thomas Mann; 1936 Rückkehr nach Deutschland, dort zunächst in München, dann in Utting am Ammersee in dem Haus Bertolt Brechts ansässig, bevor ein Haus in Bühl (Baden) gebaut wird; 1937 werden 19 Arbeiten bei der Aktion „Entartete Kunst“ beschlagnahmt; 1937-38 Reise nach Florenz und Sienna; ab 1938 Wohnsitz in Tutzing, dort Bekanntschaft mit dem Cellisten Ludwig Hoelscher und dessen Frau Marion; 1941 Berufung als Professor an die Kunstakademie Karlsruhe, doch noch vor seinem Antritt wurde sein Atelier versiegelt und er wurde gezwungen von dem Vertrag zurück zu treten; 1951-58 Lehrer an der Kunstakademie Karlsruhe; 1952 Ernennung zum Professor; 1957 Tod der Ehefrau Yvonne; 1958 Pensionierung; 1958 Umzug nach Tutzing; 1968 fortschreitende Einschränkung der Sehkraft; 1974 Umzug in ein Seniorenstift in Dießen am Ammersee; ab 1976 erneuter Höhepunkt der Kreativität

Mitgliedschaften
1919-20 Karlsruhe, Gruppe Rih
(spätestens) 1928-36 und 1957-67 Deutscher Künstlerbund
1954-56 Pfälzische Sezession

Ab 1918 hatte Walter Becker zahlreiche Einzelausstellungen und Beteiligungen an Gruppenausstellungen.

Preise
1931 1. Kunstpreis der Stadt Hannover für das Portrait von Marcel Sauvage
1952 1. Preisträger der Internationalen Graphik Gilde Paris

Werken befinden sich u.a. im Besitz von den folgenden Sammlungen
Museum für aktuelle Kunst – Sammlung Hurrle, Durbach
Kunsthalle in Emden – Sammlung Henri Nannen
Städtische Galerie Bietigheim-Bissingen
Museum Folkwang, Essen
Städtische Galerie Ettlingen
Staatliche Kunsthalle Karlsruhe
Augustinermuseum, Freiburg
Sprengel Museum Hannover
Kunsthalle Würth, Schwäbisch Hall
Universitätsmuseum, Marburg
Kunsthalle Schweinfurt

Literatur (Auswahl)
Dollen, Ingrid von der (2015): Walter Becker 1893-1984 Malerei und Grafik; Edition Joseph Hierling; Tutzing
Jessewitsch, Rolf / Schneider, Gerhard (Hrsg.) (2008): Entdeckte Moderne. Werke aus der Sammlung Gerhard Schneider; Kettler; S. 476
Mülfarth, Leo (1987): Kleines Lexikon Karlsruher Maler; Badenia-Verlag; Karlsruhe; S. 23-24
Portz, Hubert (2008): Walter Becker. Frühe Werke 1914-1933; Edition Strasser
Schneider, Erich (Hrsg.) (2009): Expressiver Realismus. Die Sammlung Joseph Hierling [Schweinfurter Museumsschriften 166/2009]; Schweinfurt; S. 34
Zimmermann, Rainer (1994): Expressiver Realismus. Malerei der verschollenen Generation; Hirmer; München; S. 350
Kunst in Karlsruhe 1900-1950. Ausstellung der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe im Badischen Kunstverein 24. Mai – 19. Juli 1981; Müller (Karlsruhe); S. 148
Internetseite zum Künstler [walter-becker.com]