Ernst Geitlinger

(13.02.1895 Frankfurt a.M. – 28.03.1972 Seeshaupt)

Erzwungen – Kantig … Frei!

Themenflyer

 

 

Ernst Geitlinger
„An der Bar“ (WVZ: P51), 1939, Aquarell, 62,5 x 48,5 cm, signiert, Provenienz: Galerie Dr. Hans Helmut Klihm (1917-1980), München, verkauft

 

Liebe Kunstfreunde,

kantig, hart und furios ist der Aufbau dieser Bar-Szene. Mit wenigen Strichen und Balken werden zwei Personen samt Raum umrissen. – Ein sitzender Mann, die stehende Barfrau und der horizontale Tresen, der beide voneinander trennt. Neben dieser auf das Wesentliche reduzierten, klaren Formensprache, tritt eine expressive Farbgebung, die in ihrer Emotionalität und Spontaneität wie ein abstrakter Expressionismus avant la lettre wirkt. Verortet man nun dieses Werk in das Jahr 1939, dem Entstehungsjahr der Arbeit, so zeigt sich die ganze moderne, um nicht zu sagen: avantgardistische Ausrichtung. Doch halten wir einen Moment inne und betrachten den Künstler dahinter. Was mag ihn in diesem Jahr des Kriegsbeginns zu einer solch brachial fulminanten, den damaligen Kunstbetrieb absolut negierenden Arbeit getrieben haben?

Die Familie von Ernst Geitlinger (1895 Frankfurt a.M. – 1972 Seeshaupt) zieht 1913 nach New York. Er möchte Theatermaler werden und nimmt dort erste Unterrichtsstunden. Erst 1922 kehrt er nach Deutschland zurück, pendelt aber bis 1929 immer wieder nach Nordamerika. Von 1922 bis 1931 studiert er an der Münchner Kunstakademie bei Karl Caspar. Bei den „Juryfreien“ und in Schwabinger Künstlerkreisen ist er aktiv. Seine expressiv realistischen Landschaften (wie das „Bauernhaus“ von 1930) und Bildnisse erhalten vermehrt Beachtung und 1931 hat er seine erste Einzelausstellung. Geitlinger ist dabei sich als Künstler zu etablieren.

Mit dem Jahr 1933 aber bricht eine Zäsur ein. Bis 1945 ist Geitlinger nur bei einer Ausstellung nachweisbar – und dies ist bezeichnenderweise die nach elf Tagen wieder geschlossene Hamburger Schau „Malerei und Plastik“ (1936) des Deutschen Künstlerbundes. 1937 wird mindestens eines seiner Werke bei der Aktion „Entartete Kunst“ aus Museumsbesitz beschlagnahmt. Seine wirtschaftliche Situation verschlechtert sich drastisch, so dass er den Lebensunterhalt für sich und seine zweite Frau Marianne als Anstreicher und Posthilfsarbeiter verdienen muss. Und so mag es nicht verwundern, dass er sich bereits 1933, aber nochmals ganz konkret 1937 und 1938 mit Emigrationsversuchen beschäftigt, die dann aber allesamt scheitern. Mehr und mehr zieht er sich zurück und erschafft in dieser erzwungenen ‚inneren Emigration‘ ein aus heutiger Sicht beeindruckend modernes Œuvre. Bei diesen zum Großteil auf Papier gemalten Werken kann Geitlinger keinesfalls einen merkantilen Hintergedanken gehabt haben. Viel zu offenkundig ist hierfür seine Absage an den Zeitgeist, und viel zu sehr forciert er das Individuelle, das rein Künstlerische hierbei.

Die vorliegende Bar-Szene kann sicherlich der Anfangszeit dieses signifikanten Einschnitts zugeordnet werden. Betrachtet man die reduzierten Formen, so wirkt es beinahe so, als ob sich hierin seine damaligen reduzierten, eingeengten Lebensverhältnisse widerspiegeln. Ebenso mag die abstrakt expressionistische Farbgebung wie ein nach außen Kehren seines Gemüts erscheinen – ungebändigt, unkontrolliert, spontan und vor allem: frei. Und so schafft Ernst Geitlinger aus dem traditionsreichen Topos eines Wirtshausinterieurs eine überaus eigenständige, kaum kategorisierbare Interpretation dieses gerade für München so typischen Bildgenres.

Blicken wir zeitlich weiter. – Als der Krieg sich zuspitzt, legt er im März 1942 die Dolmetscherprüfung ab, um dem Militärdienst zu entgehen. Er wird in ein Gefangenenlager für Briten nach Hohenfels (Oberpfalz) verlegt. Ein Jahr später, im März 1943, wird sein Münchner Atelier bei einem Bombenangriff zerstört.

Nach dem Krieg beginnt ein neues, vielseitiges Engagement. Durch den Kunsthistoriker und Galeristen Dr. Hans Helmut Klihm (1917-1980), in dessen Besitz auch „An der Bar“ war, kommt Geitlinger in Kontakt mit Sammlern und Museen. Zahlreiche Einzel- und Gruppenausstellungen folgen. Er zählt 1946 zu den Mitbegründern der Künstlervereinigung „Neue Gruppe“. Von 1951 bis 1965 ist er Professor an der Münchner Akademie und leitet im Anschluss daran seine private Malschule.

Künstlerisch verfolgt Geitlinger einen Weg der Reduktion und des Minimalismus. – Ganz seinem Credo entsprechend „einmal ein Bild mit nur einem Punkt zu malen“ (Lida v. Mengden). Konkrete Stilelemente und eine klare Formensprache lassen ihn zu einem Wegbereiter der Kunst nach 1945 werden, wofür das Spätwerk ‚Grün-Rot‘ (1970) als exemplarisch gelten mag.

Von expressiv realistischen Anfängen bis zu einer konstruktiv konkreten Darstellungsweise reicht die Bandbreite im Schaffen Geitlingers. „An der Bar“ entstand dabei in der biografisch einschneidenden und künstlerisch so wichtigen Schaffensphase der ausgehenden 1930er und beginnenden 1940er Jahre. Gezwungen durch äußeren Druck war der Künstler ganz bei sich, damit ganz Künstler und legte so den Kern für sein kommendes, einflussreiches Werk.

Mit herzlichen Grüßen verbleibt einmal mehr Ihr Maximilian v. Koskull

 

 

 

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