E R N S T    G E I T L I N G E R    (13.02.1895 Frankfurt a.M. – 28.03.1972 Seeshaupt)

 

Weitere Werke von Ernst Geitlinger
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„Figürlich im Raum“ (1965)

Mischtechnik (Tempera, Tusche, Bleistift) auf Maschinenbütten („Raffaello Fabriano“), verso am oberen Rand durch kleine Klebestreifen frei in Passepartout gesetzt

verso unten mittig in Blei datiert „[19]66“
verso unten mittig in Blei signiert „Ernst Geitlinger“, sowie verso unten rechts Signaturstempel

Größe: 66,1 x 48,1 cm (Blatt) bzw. 89,7 x 69,7 cm (Passepartout)

€ 1.400,-

Kaufanfrage

 

Titel
verso unten links in Blei betitelt „Figürlich im Raum“, im Nachtrag (2009 auf CD erschienen) zum Werkverzeichnis (Roswitha Nees 1991): NP 169, diese Nummer auch verso oben rechts in Blei angegeben

Zustand
Blatt verso am oberen Rand durch kleine Klebestreifen in Passepartout gesetzt; die Ecken sehr leicht bestoßen; im Eckbereich unten rechts sehr leicht farbfleckig; im Bereich oben rechts sehr leicht farbfleckig; leichte Druckstellen im Blatt;
verso leicht fleckig, sowie verso oben rechts in Blei nummeriert „201/“

 

 

„An die geometrischen Abstraktionen des Jahres 1964 schließt sich ein Jahr später eine Reihe konstruktivistischer Zeichnungen mit kubisch abstrahierten Figuren in perspektivisch angedeuteten Innenräumen an. Sie sind im Jahr nach Geitlingers Emeritierung zwischen 1965 und 1966 entstanden. Sie wirken wie der Versuch einer Rekapitulation. Sich der eigenen Anfänge erinnernd, beschäftigte sich der Künstler nämlich beinahe schulmäßig mit den Möglichkeiten der figurativen Abstraktion. Es handelt sich in der Regel um hochformatige Tusche- bzw. Bleistiftzeichnungen mit Tempera. Von geringfügigen Abweichungen abgesehen betragen die Maße ca. 70 x 55,5 cm.“ [1]

Das hier vorliegende Werk ist, trotz der sehr leicht abweichenden Maße, explizit in die oben von Roswitha Nees beschriebene Schaffensphase zwischen 1965 und 1966 einzuordnen.

Ernst Geitlinger hat diese Komposition mit „Figürlich im Raum“ betitelt. Dieser besagte Raum wird dabei durch dünne schwarze Linien minimalistisch umrissen. Zwei schräg aus dem Vordergrund in den linken Bildbereich führende Linien schaffen diesen Raum in dem sich dann die beiden Formen positionieren können. Im Hintergrund bildet ein schwarzes Viereck den räumlichen Abschluss. Die linke Form ist ohne Zweifel als Figur anzusehen – schmal und hoch ausgeführt. Diese Ausführung lässt unweigerlich an eine Leiter denken, doch bleibt Geitlinger immer noch im Bereich des Gegenständlichen, des für den Betrachter dezidiert Kategorisierbaren, da er mit den zwei roten Punkten und dem obigen schwarzen Punkt ganz deutliche Anhaltspunkte zur Einordnung liefert. – So wird es sich hier ohne Zweifel um eine Frau handeln. Die schwarz-weiße Farbgebung lässt sich dabei vielleicht als Reduktion eines eleganten Abendkleids deuten. Die danebenstehende Figur entzieht sich der Einordnung schon weit mehr. – Fünf etwas kleinere schwarze Striche und vier längere, aber zugleich auch uneinheitliche, gelbe Striche wechseln sich ab. Für den Betrachter bleibt es – im Gegensatz zur linken Figur – nicht klar, ob diese schwarz-gelbe Form ebenso eine Figur oder eben doch „nur“ ein Objekt sein soll. Ist es ein weiteres Subjekt mit dem die linken Figur in Dialog treten kann, oder ist es vielleicht eher ein Objekt, welches von der großen, schwarz-weiß gekleideten Frau betrachtet wird [2]?

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[1] Roswitha Nees (2006): Ernst Geitlinger 1895-1972. Leben und Werk; Saarbrücken: St. Johann; S. 151.
[2] In dieser Werkgruppe finden sich Beispiele für beide Optionen. Es gibt sowohl Arbeiten mit zwei Figuren, als auch Arbeiten mit nur einer Figur und einem dann nicht weiter identifizierbaren Objekt (siehe dazu bspw. die Werke P 773, P 780, P 781).

 

 

Zu Ernst Geitlinger (13.02.1895 Frankfurt a.M. – 28.03.1972 Seeshaupt)
Maler, Zeichner, Bühnenbildner; nach der Volksschule Besuch eines Internats in Waldkirch (bei Freiburg); 1912 Oberrealabschluss; 1913 Umzug der Familie nach New York; Beschluss Theatermaler zu werden, wozu sich Geitlinger an der National Academy of Design einschreibt; 1914 Bekanntschaft mit Ernst „Putzi“ Hanfstaengl, der in New York eine Malschule betreibt; bis 1918 arbeitet Geitlinger dort als Zeichenlehrer; Bekanntschaft mit Winold Reiss, bei dem er seine Kunststudien fortsetzt und in dessen Atelier er mitarbeitet; 1920 Heirat in New York mit Martha Kartenkamp; 1922 Rückkehr nach Deutschland (München); 1922-31 Studium an der Kunstakademie München (bei Karl Caspar); bis 1929 verbringt Geitlinger die Sommermonate in New York und arbeitet dort als Bühnenbildner; New York; ab 1929 in München ansässig; ab 1930 Atelier in München; 1931 erste Einzelausstellung in der Galerie Weber (Berlin); 1932 Mitglied der Juryfreien; Einrichtung eines Ateliers übder dem „Schwabingerbräu“ in der Feilitzschstraße 28; in den 1930er Jahren Zusammenarbeit mit dem Maler Georg Hans Müller; 1933 politisch bedingte Auswanderungspläne; 1935 zweite Heirat mit Marianne Isler, die Familie wohnt in der Kurfürstenstraße 39; 1935 werden bei einer Ausstellung auch Werke Geitlingers im Vorfeld der Eröffnung wieder abgehängt; 1936 Mitglied im Deutschen Künstlerbund; 1937 wird eine Arbeit Geitlingers („Schneelandschaft“, Aquarell) im Rahmen der Aktion „Entartete Kunst“ aus den Städtischen Museen Rostock beschlagnahmt; bis 1938 verschiedene Emigrationsversuche in die USA, UdSSR, nach Kolumbien; Geitlinger erhält keine Aufträge mehr, bereits ausgeführte Auftragsarbeiten für Verlage werden abgelehnt; Geitlinger zieht sich in die „innere Emigration“ zurück; er ist tätig als Anstreicher und Posthilfsarbeiter; weiterhin malt er heimlich weiter; um dem Kriegsdienst zu entgehen legt er am 12.03.1942 die Dolmetscherprüfung ab und wird in ein Gefangenenlager für Briten nach Hohenfels (Oberpfalz) verlegt; weiterhin ist er malerisch tätig; 1942 mietet Marianne Geitlinger ein Zimmer in Seeshaupt (Hauptstr. 4) und führt einen Teil der Bilder ihres Mannes dorthin über; am 10.03.1943 wird das Münchener Atelier bei einem Bombenangriff zerstört; 1945 kurzzeitig in amerikanischer Kriegsgefangenschaft; Anfang Juli 1945 Heimkehr und fortan ansässig in Seeshaupt; durch den Kunsthistoriker Dr. Hans Helmut Klihm und dessen Ehefrau Erika konnte Geitlinger neue Kontakte zu Sammlern und Museen knüpfen; Dezember 1945 erste Ausstellungsbeteiligung nach dem Krieg im Schaezler-Palais (Augsburg); im Weiteren zahlreiche Einzel- und Gruppenausstellungen; 1946 Mitbegründer der Künstlervereinigung „Neue Gruppe“; 1948 Teilnahme an der Biennale in Venedig; 1949 Auftrag für das Bühnenbild und Kostümentwürfe für Igor Strawinskys „Orpheus“ an der Bayerischen Staatsoper; ab 1950 regelmäßig beteiligt an den Großen Münchner Kunstausstellungen; 1951 Beitritt zu den Darmstädter und Frankfurter Sezessionen; 1951-65 Professor an der Kunstakademie München; 1957 Italienreise; 1961 zwei Wandgestaltungen an der kaufmännischen Berufsschule Fulda; 1965 Gründung der privaten Malschule „Atelier Geitlinger“ in München; am 23.07.1983 gründen ehemalige Schüler Geitlingers die „Ernst Geitlinger Gesellschaft“; 1991 kam durch Schenkung ein Großteil des künstlerischen Nachlasses Geitlingers in den Besitz der Stadt Neu-Ulm; Werke Geitlingers befinden sich u.a. im Städel-Museum (Frankfurt a.M.), Sprengel-Museum (Hannover), in der Pfalzgalerie Kaiserslautern, dem Museum Ludwig (Köln), den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen (München), dem Lenbachhaus (München), dem Edwin-Scharff-Museum (Neu-Ulm), Saarland-Museum (Saarbrücken)

Literatur
NEES, Roswitha: Biographie, in: Ernst Geitlinger Gesellschaft, München (Hrsg.) (1991): Ernst Geitlinger. Werkverzeichnis 1924-1972; Verlag St. Johann; Saarbrücken; S. 13-24
NEES, Roswitha: Geitlinger, Ernst, in: „Allgemeines Künstlerlexikon“ (AKL), Onlineversion, Künstler-ID: 00055491
PAPENBROCK, Martin (1996): „Entartete Kunst“, Exilkunst, Widerstandskunst in westdeutschen Ausstellungen nach 1945. Eine kommentierte Bibliographie; Weimar: VDG; S. 454
SEIDENFADEN, Ingrid (1974): Einführung, in: Ernst Geitlinger 1895-1972 [Städtische Galerie im Lenbachhaus München, 10. Juli bis 1. September 1974]; Christoph Dürr Verlag; München; unpag.
Internetseite der Ernst Geitlinger Gesellschaft (ernst-geitlinger.de)