E R N S T   G E I T L I N G E R

 

Weitere Werke von Ernst Geitlinger
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„Im Atelier“ (1965)

Mischtechnik (Tempera, Tusche, Bleistift) auf Maschinenbütten, verso am oberen Rand durch kleine Klebestreifen frei in Passepartout gesetzt

verso in Blei datiert „[19]65“
verso in Blei signiert „Ernst Geitlinger“, verso am unteren Rand von fremder Hand mit Künstlernamen bezeichnet

Größe: 70,5 x 55,3 cm (Blatt) bzw. 89,6 x 69,9 cm (Passepartout)

€ 1.800,-

Kaufanfrage

 

Titel
verso unten mittig in Blei betitelt „Im Atelier“, WVZ (Roswitha Nees 1991): P 770, diese Nummer auch verso in Blei angegeben
Eine Abbildung der relevanten Seite ist unten angefügt.

Zustand
Blatt verso am oberen Rand durch kleine Klebestreifen in Passepartout gesetzt; in den Randbereichen durchgehend etwas bestoßen, sowie sehr leicht nachgedunkelt; partiell leichte Druckstellen im Blatt; im linken Randbereich oben kleiner Fleck; um die blaue Figur vereinzelt im Malprozess entstandene kleine, blaue Farbflecken; im Randbereich oben rechts kleiner im Malprozess entstandener Farbfleck
verso am oberen Rand vom Künstler stammender Pfeil in Blei zur Ausrichtung des Blattes; verso im unteren Bereich mit Bezeichnungen in Blei (wohl) aus dem Nachlass („Seeshaupt“, „P 770“, „29?“, „18.9/2“), sowie Künstlername in Blei von fremder Hand

Abbildung
Ernst Geitlinger Gesellschaft, München (Hrsg.) (1991): Ernst Geitlinger. Werkverzeichnis 1924-1972; Saarbrücken: St. Johann; S. 338 (kleine s/w-Abb.)

Ausstellung
25. September bis 7. November 1965, „Die Frankfurter Sezession und ihre Gäste“, Frankfurter Salon, Frankfurt am Main, Kat.Nr. 24 [Im WVZ (Nees 1991) wird hier irrigerweise die Katalog-Nr. 23 angegeben.], ohne Abb.
Eine Abbildung der relevanten Katalogseite ist unten angefügt.

 

 

„An die geometrischen Abstraktionen des Jahres 1964 schließt sich ein Jahr später eine Reihe konstruktivistischer Zeichnungen mit kubisch abstrahierten Figuren in perspektivisch angedeuteten Innenräumen an. Sie sind im Jahr nach Geitlingers Emeritierung zwischen 1965 und 1966 entstanden. Sie wirken wie der Versuch einer Rekapitulation. Sich der eigenen Anfänge erinnernd, beschäftigte sich der Künstler nämlich beinahe schulmäßig mit den Möglichkeiten der figurativen Abstraktion. Es handelt sich in der Regel um hochformatige Tusche- bzw. Bleistiftzeichnungen mit Tempera. Von geringfügigen Abweichungen abgesehen betragen die Maße ca. 70 x 55,5 cm.“
[Roswitha Nees (2006): Ernst Geitlinger 1895-1972. Leben und Werk; Saarbrücken: St. Johann; S. 151.]

Das hier vorliegende Werk ist dem Motiv, der Ausführung, der Datierung, wie auch dem gewählten Malgrund nach explizit in die oben von Roswitha Nees beschriebene Schaffensphase zwischen 1965 und 1966 einzuordnen.

Geitlinger verlegt hier, dem Titel nach, den gezeigten Innenraum in ein Künstleratelier. Fünf Objekte im Raum lassen sich voneinander differieren. Da sind die beiden, farbig ausgeführten, langgezogenen Figuren, daneben noch zwei kubusförmige Stühle, die sich jeweils hinter den Figuren befinden und schließlich im rechten oberen Bildquadrat ein schlichtes schwarzes Rechteck, bei dem es sich um ein aufgehängtes fertiges Bild oder ein im Malprozess befindliches Bild handeln wird.

Wie oft bei Geitlinger sind die Farben der Figuren markant und zweifelsohne auch wohlüberlegt in ihrer Wirkkraft. Die linke Figur besteht aus einer hohen blauen Vertikalen, an welche sich rechts nochmals eine dünne blaue Linie parallel anschließt. Der Kopf dieser Figur ist rot, was bereits innerhalb der Figur eine gewisse Spannung zwischen dem warmen und kalten Farbton erzeugt. Diese Spannung zeigt sich verstärkt im Kontext mit der zweiten, sitzenden Figur. Zum einen bildet sich diese nicht aus einer Farbfläche, sondern vielmehr aus einer Linie und zum anderen ist es eben das rote Kolorit, das hier deutlich zum Blau in Kontrast tritt. Dass der Kopf in Gelb ausgeführt ist, mag im ersten Moment erstaunen, doch schließlich wirkt es konsequent und überzeugend. Ein blauer Kopf, der die Körperfarbe der linken Figur aufgegriffen hätte, würde dem Werk eine allzu offenkundige, um nicht zu sagen: banale, über Kreuz gelagerte Farbverbindung geben und den Betrachter so viel zu schnell ‚entlassen‘. Der gelbe Kopf irritiert anfangs, erscheint dann aber als plausibel, wenn man sich der komplementären Verbindung zum Blau und der damit verbundenen innerbildlichen Spannung bewusst wird. Neben diesen beiden Dimensionen – Fläche / Linie, sowie Rot / Blau – ist etwas dezenter auch ein Gegensatz in Form von vertikal und horizontal zu finden. Denn, während die blaue Figur unmissverständlich steht, sitzt doch die rote Figur, was sich anhand der eingeknickten Beine zeigt. Weiterhin hat Geitlinger den rot umrandeten Torso mit horizontalen Bleistiftlinien gefüllt, so dass hierdurch diese Bewegung in die Breite nochmals unterstrichen wird.

Geitlinger zeigt sich hier als ein sehr exakt arbeitender Künstler, der sich um die Wirkkräfte von Farben und Formen sehr bewusst ist. Vor diesem Hintergrund gelingt es ihm auf eine erstaunliche Weise in einem stark reduzierten, minimalistischen Bildraum verschiedene Ebenen der Bildbetrachtung und -interpretation einzufügen, welche sich zudem je nach Bildausschnittbetrachtung noch erweitern bzw. fokussieren lassen.
Die Relevanz dieser Atelier-Szene dürfte auch dadurch unterstrichen werden, dass das Werk bereits im Jahr des Entstehens bei der Ausstellung „Die Frankfurter Sezession und ihre Gäste“ öffentlich gezeigt wurde.

 

 

Zu Ernst Geitlinger (13.02.1895 Frankfurt a.M. – 28.03.1972 Seeshaupt)
Maler, Zeichner, Bühnenbildner; nach der Volksschule Besuch eines Internats in Waldkirch (bei Freiburg); 1912 Oberrealabschluss; 1913 Umzug der Familie nach New York; Beschluss Theatermaler zu werden, wozu sich Geitlinger an der National Academy of Design einschreibt; 1914 Bekanntschaft mit Ernst „Putzi“ Hanfstaengl, der in New York eine Malschule betreibt; bis 1918 arbeitet Geitlinger dort als Zeichenlehrer; Bekanntschaft mit Winold Reiss, bei dem er seine Kunststudien fortsetzt und in dessen Atelier er mitarbeitet; 1920 Heirat in New York mit Martha Kartenkamp; 1922 Rückkehr nach Deutschland (München); 1922-31 Studium an der Kunstakademie München (bei Karl Caspar); bis 1929 verbringt Geitlinger die Sommermonate in New York und arbeitet dort als Bühnenbildner; New York; ab 1929 in München ansässig; ab 1930 Atelier in München; 1931 erste Einzelausstellung in der Galerie Weber (Berlin); 1932 Mitglied der Juryfreien; Einrichtung eines Ateliers übder dem „Schwabingerbräu“ in der Feilitzschstraße 28; in den 1930er Jahren Zusammenarbeit mit dem Maler Georg Hans Müller; 1933 politisch bedingte Auswanderungspläne; 1935 zweite Heirat mit Marianne Isler, die Familie wohnt in der Kurfürstenstraße 39; 1935 werden bei einer Ausstellung auch Werke Geitlingers im Vorfeld der Eröffnung wieder abgehängt; 1936 Mitglied im Deutschen Künstlerbund; 1937 wird eine Arbeit Geitlingers („Schneelandschaft“, Aquarell) im Rahmen der Aktion „Entartete Kunst“ aus den Städtischen Museen Rostock beschlagnahmt; bis 1938 verschiedene Emigrationsversuche in die USA, UdSSR, nach Kolumbien; Geitlinger erhält keine Aufträge mehr, bereits ausgeführte Auftragsarbeiten für Verlage werden abgelehnt; Geitlinger zieht sich in die „innere Emigration“ zurück; er ist tätig als Anstreicher und Posthilfsarbeiter; weiterhin malt er heimlich weiter; um dem Kriegsdienst zu entgehen legt er am 12.03.1942 die Dolmetscherprüfung ab und wird in ein Gefangenenlager für Briten nach Hohenfels (Oberpfalz) verlegt; weiterhin ist er malerisch tätig; 1942 mietet Marianne Geitlinger ein Zimmer in Seeshaupt (Hauptstr. 4) und führt einen Teil der Bilder ihres Mannes dorthin über; am 10.03.1943 wird das Münchener Atelier bei einem Bombenangriff zerstört; 1945 kurzzeitig in amerikanischer Kriegsgefangenschaft; Anfang Juli 1945 Heimkehr und fortan ansässig in Seeshaupt; durch den Kunsthistoriker Dr. Hans Helmut Klihm und dessen Ehefrau Erika konnte Geitlinger neue Kontakte zu Sammlern und Museen knüpfen; Dezember 1945 erste Ausstellungsbeteiligung nach dem Krieg im Schaezler-Palais (Augsburg); im Weiteren zahlreiche Einzel- und Gruppenausstellungen; 1946 Mitbegründer der Künstlervereinigung „Neue Gruppe“; 1948 Teilnahme an der Biennale in Venedig; 1949 Auftrag für das Bühnenbild und Kostümentwürfe für Igor Strawinskys „Orpheus“ an der Bayerischen Staatsoper; ab 1950 regelmäßig beteiligt an den Großen Münchner Kunstausstellungen; 1951 Beitritt zu den Darmstädter und Frankfurter Sezessionen; 1951-65 Professor an der Kunstakademie München; 1957 Italienreise; 1961 zwei Wandgestaltungen an der kaufmännischen Berufsschule Fulda; 1965 Gründung der privaten Malschule „Atelier Geitlinger“ in München; am 23.07.1983 gründen ehemalige Schüler Geitlingers die „Ernst Geitlinger Gesellschaft“; 1991 kam durch Schenkung ein Großteil des künstlerischen Nachlasses Geitlingers in den Besitz der Stadt Neu-Ulm; Werke Geitlingers befinden sich u.a. im Städel-Museum (Frankfurt a.M.), Sprengel-Museum (Hannover), in der Pfalzgalerie Kaiserslautern, dem Museum Ludwig (Köln), den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen (München), dem Lenbachhaus (München), dem Edwin-Scharff-Museum (Neu-Ulm), Saarland-Museum (Saarbrücken)

Literatur
NEES, Roswitha: Biographie, in: Ernst Geitlinger Gesellschaft, München (Hrsg.) (1991): Ernst Geitlinger. Werkverzeichnis 1924-1972; Verlag St. Johann; Saarbrücken; S. 13-24
NEES, Roswitha: Geitlinger, Ernst, in: „Allgemeines Künstlerlexikon“ (AKL), Onlineversion, Künstler-ID: 00055491
PAPENBROCK, Martin (1996): „Entartete Kunst“, Exilkunst, Widerstandskunst in westdeutschen Ausstellungen nach 1945. Eine kommentierte Bibliographie; Weimar: VDG; S. 454
SEIDENFADEN, Ingrid (1974): Einführung, in: Ernst Geitlinger 1895-1972 [Städtische Galerie im Lenbachhaus München, 10. Juli bis 1. September 1974]; Christoph Dürr Verlag; München; unpag.
Internetseite der Ernst Geitlinger Gesellschaft (ernst-geitlinger.de)

 

 

 

Aus: Katalog zur Ausstellung „Die Frankfurter Sezession und ihre Gäste“ (25.
September bis 7. November 1965)
,
Frankfurter Salon, Frankfurt am Main


Aus: Ernst Geitlinger
Gesellschaft, München (Hrsg.) (1991): Ernst Geitlinger. Werkverzeichnis
1924-1972; Verlag St. Johann; Saarbrücken; S. 338