H E N R I E T T E A U E G G (22.07.1841 Linz – 24.11.1912 Graz)
„Kleine Hände. Eine Erzählung“ (wohl 1872)
Dunkle Tinte auf Papier, insgesamt 7 Bl. (gefaltet zu je vier Seiten, alle Seiten durchgehend beschrieben) mit originalem Papierumschlag
wohl am Ende der Erzählung datiert „[18]72“
auf Umschlag signiert „von H. Auegg“
Größe: 22,9 x 14,5 cm (Seitengröße)
€ 940,-
Titel
„Kleine Hände. Eine Erzählung“ [so auf Umschlag sowie auf Bl.1 (S.1) betitelt (dort jeweils das voranstehende „Zwei“ durchgestrichene); abgedruckt in: „Die Dioskuren – Literarisches Jahrbuch des ersten allgemeinen Beamtenvereins der österreichisch-ungarischen Monarchie“ (1878 (7. Jg.), Wien, S. 369-373)]
Zustand
Umschlag: Rücken stärker eingerissen, fleckig, Randbeschädigungen; weiterhin mehrere zum Großteil unleserliche Annotationen / Druckkorrekturen in Blei; Ecken bestoßen und mit kleinen Knickspuren
Seiten: Ecken etwas bestoßen; mitunter Annotationen / Korrekturen in Blei für den Druck; partiell in den Randbereichen etwas fleckig
Literatur
Ohne Verfasser: „Belehrung und Unterhaltung. Der siebente Jahrgang der ‚Dioskuren‘ (Fortsetzung)“, in: „Beamten-Zeitung. Zeitschrift des ersten allgemeinen Beamten-Vereines der österreichisch-ungarischen Monarchie“, 1878 (IX. Jg.), Nr. 3 (v. 18. Jänner 1878), Wien, S. 20-21. Dort heißt es explizit zu der vorliegenden Erzählung „Kleine Hände“:
„Die allerliebste Erzählung ‚Kleine Hände‘ von H. Auegg (S. 369) schildert einen Gutsbesitzer, welcher sich zu der ihm von seinem verstorbenen Vater bestimmten, obwohl jungen und schönen Braut gar nicht hingezogen fühlt, bis er einmal unwillkürlich auf die Schönheit derselben, insbesondere auf ihre lieben, kleinen Hände aufmerksam gemacht wird und mit Rücksicht auf das von diesen kleinen Händen geschriebene und von ihm gefundene Geständnis ihrer Liebe zu ihm plötzlich lichterloh im Herzen brennt“ (S. 21).
Provenienz
1) Franz Zeidler (?-?), Oberrechnungsrat der steiermärkischen Statthalterei in Graz [Hierzu auf Umschlag oben in Rot bezeichnet „Vom Hrr Oberrnchn.Rath Zeidler in Graz übergeben“ (alles später in Rot durchgestrichen)]
Franz Zeidler war ordentliches Mitglied des historischen Vereines für Steiermark, Mitglied im „Berg- und hüttenmännischen Verein für Steiermark und Kärnten“, sowie Obmann des steiermärkischen Beamtenvereins.
Womöglich lässt sich dieser Hinweise auf eine ‚Übergabe‘ so deuten, dass Zeidler diese Handschrift von Henriette Auegg an die Schriftleitung der „Dioskuren“ weitergab. Als Obmann des steiermärkischen Beamtenvereins dürfte es als plausibel erscheinen, dass Zeidler auch die Schriftleitung der „Dioskuren“ des „Literarischen Jahrbuch des ersten allgemeinen Beamtenvereins der österreichisch-ungarischen Monarchie“ kannte.
2) ?-1997, Antiquariat Halkyone, Hamburg.
Bei dem vorliegenden Autograph von der Erzieherin, Schriftstellerin und Vereinsfunktionärin Henriette Auegg (1841 Linz – 1912 Graz) handelt es sich um die Handschrift zu ihrer Erzählung „Kleine Hände“. Diese Erzählung erschien als Druck in der Zeitschrift „Die Dioskuren“ (1878 (7. Jg.), S. 369-373).
Gegenüber dem Druck finden sich in dieser Version kleine Unterschiede und es lassen sich zudem Vermerke / Annotationen innerhalb der Handschrift finden, die dann im Druck umgesetzt wurden.
Inhaltlich behandelt die Verfasserin das Thema der Vernunftehe und das „Vorausbestimmen von Heiraten“. Und einleitend schreibt sie dazu: „Ich möchte dergleichen nie bestimmen u. will zur Warnung für andere eine kleine, jüngst erfahrene Geschichte erzählen in welcher diese Übelstände recht fülbar geworden u. bald ein Unglück geschehen wäre.“
In der Erzählung geht es um zwei junge Leute (Brigitta Schrotter und Eduard von Messerode), deren Väter eine Heirat der Beiden beschlossen hatten. Der junge Mann fühlt sich jedoch anfangs nicht hingezogen und erkennt dann erst nach dem zufälligen Betrachten der schlafenden Brigitta seine Zuneigung, wobei dieses Erkennen nicht zuletzt durch das Betrachten der titelgebenden ‚kleinen Hände‘ erfolgt.
Zu Henriette Auegg (22.07.1841 Linz – 24.11.1912 Graz):
Erzieherin, Schriftstellerin, Vereinsfunktionärin; stammt aus einer oberösterreichischen Gutsbesitzerfamilie; die Mutter Eleonore Auegg (1811-1890), geb. Dilg, war Porträtmalerin und stammt aus der Wiener Künstlerfamilie Adamberger; Henriette Auegg besuchte, aufgrund der finanziellen Situation der Familie, nie eine Schule und wurde gänzlich von ihren Eltern erzogen; ab dem zwölften Lebensjahr bildete sie sich autodidaktisch weiter; mit 18 Jahren wurde sie Erzieherin von Ignaz Attems, Sohn des Grafen Ferdinand Attems, und verzog im Sommer 1861 mit dessen Familie nach Graz (Sackstraße 17, Pallais Attems); dort war sie sowohl Gesellschafterin als auch Hausärztin; 1861-79 war sie neben ihrer Tätigkeit bei der Familie Attems auch in der Armenpflege aktiv, bildete sich mit Unterstützung der Familie Attems autodidaktisch in Medizin und Theologie weiter und veröffentlichte Erzählungen und Märchen in u.a. der „Elberfelder Zeitung“ der Zeitschrift „Dioskuren“ und österreichischen Tageszeitungen; 1863 gewann sie mit ihrem Text „Ueber den Werth und die Bedeutung der modernen Salonsprachen für Frauen. Eine Frauenstimme“ den Wettbewerb der Zeitschrift „Iris. Original Pariser und Wiener Damen-Moden-Zeitung“ (Graz) ; im Sommer 1871 machte sie zusammen mit ihrem Onkel Alfred Ritter von Arneth (1819-1897) und dessen Tochter Auguste (1845-1912) Urlaub im Seebad Scheveningen ; 1877 erschien ihr Band „Krankenpflege als Unterrichtsgegenstand“ (Graz: Aug. Hesse), wodurch sie eine gewisse Bekanntheit erlangte und für Vorträge geladen wurde; 1878 Wahl in den Ausschuss des Österreichischen Roten Kreuzes; 1881 übernahm sie den Vorstand des „Vereins für Kindergärten“ (Graz); 1884 wurde sie Schriftführerin der Frauenvolksgruppe Graz des deutschen Schulvereins; 1895 kam sie in die Bundesleitung der österreichischen „Gesellschaft vom Roten Kreuze“; Auegg engagierte sich in verschiedenen Vereinen und Verbänden und war u.a. Präsidenin des „Hilfsvereines für Lehrerinnen, Erzieherinnen und Bonnen“ (Graz); Henriette Auegg behandelte arme kranken Menschen unentgeltlich
Ehrungen
Für ihr karitatives Engagement erhielt sie den Elisabeth-Orden.
Publikationen
1877 “Die Krankenpflege als Unterrichtsgegenstand. Ein Beitrag zur weiblichen Erziehung”, Graz; 1878 “Sechs Vorträge über weibliche Krankenpflege”, Graz; 1894 “Pro und contra Vater Kneipp”, Graz; 1895 “Die Elberfelder Armenpflege und die Frauen”, Graz; 1909 “Gemütlichkeit. Über das Wesen der Gemütlichkeit vom sprachlichen und erziehlichen Standpunkte aus. Vortrag”, Graz
Text der Handschrift „Zwei kleine Hände“:
„Zwei kleine Hände
Das Vorausbestimmen von Heiraten ist allezeit eine missliche Sache; denn entweder passen die jungen Leutchen, die von Vätern u. Vormündern für einander ausgewält werden, wirklich nicht für einander, oder sie bilden es sich ein, weil im Menschengemüte eine gewisse angeborne Auflehnung gegen alles Aufgedrungene liegt. –
Und wenn es selbst nicht bis zu so heftigen u. bewussten Empfindungen kömmt, tut schon die Befangenheit, mit der
[Seite]solch vermeintliche Brautleute sich das erste Mal begegnen, ein übles, so dass gerade diejenigen, die sich recht gut kennen u. gefallen sollten, sich fremd bleiben u. den richtigen Blick für einander nicht finden können. –
Ich möchte dergleichen nie bestimmen u. will zur Warnung für andere eine kleine, jüngst erfahrene Geschichte erzählen in welcher diese Übelstände recht fülbar geworden u. bald ein Unglück geschehen wäre.
[Seite]In der kleinen Stadt M. lebte ein reicher Kaufherr, Namens Schrotter, der hatte in früheren Jahren große Freundschaft gepflogen mit dem Rittergutsbesitzer v. Messerode. Die beiden ehrenwerten Männer hatten sich auf einer Jagd kennen gelernt u. sich dabei wechselseitig so gut gefallen, daß sie Freundschaft schlossen für´s Leben.
Sie erwiesen einander kleine u. große Gefälligkeiten u. verkehrten so viel mit einander als es nur möglich war. –
Von Messerode hatte
[Seite]einen einzigen Sohn, der in einem ausländischen Institute erzogen worden u. dann in [1] Militärdienste genommen hatte getreten war [2]; der [3] Kaufherr hatte eine einzige Tochter u. als der Rittergutsbesitzer krank wurde u. zum Sterben kam, beschlossen die beiden Väter in einer stillen Abschiedsstunde, daß ihre Kinder sich heiraten sollten, wenn sie nicht zu großen Widerwillen dagegen zeigten. –
So starb der alte Messerode beruhigt u. Kaufherr Schrotter erzog sein Töchterlein, die zarte Brigitta, im Hinblicke auf diese ihre Bestimmung.
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[Seite]Er ließ ihr eine sorgfältige Ausbildung zukommen, sandte sie für kurze Zeit in die Residenz u. teilte ihr schon sehr frühe mit, daß ihr ein vornehmer, liebenswürdiger u. sehr schmucker Gemahl beschieden sei.
Dem jungen von Messerode wurde dieses Übereinkommen nach dem Tod seines Vaters schriftlich u. zwar so zart u. bescheiden als nur möglich mitgeteilt u. nachdrücklich hervorgehoben, daß dies nur ein Wunsch u. kein bindender Auftrag seines Vaters gewesen sei.
[Seite]Aber selbst diese bescheidene Mitteilung berührte den jungen Mann sehr unangenehm. Er antwortete höflich, aber kül, daß er sich nach Ablauf des Trauerjahres im Hause Schrotter einfinden u. daselbst erklären werde, ob es ihm möglich sei, den Wunsch seines Vaters zu erfüllen, oder nicht, u. daß er weder sich noch die junge Dame für gebunden halte könne.
Weiters ließ er nichts von sich hören u. nur durch andere Leute erfuhr Schrotter, daß von Messerode den Waffendienst verlassen u. sein kleines
[Seite]Rittergut übernommen habe. –
Dieses kleine Gut lag nicht fern von der Stadt M., aber von Messerode war nie nach der Stadt gekommen u. hatte nie nach Mitteilungen oder auch einem Bild von der ihm bestimmten Braut gefragt. Dem Kaufherrn wurde dies etwas fatal besonders als das Trauerjahr fast verstrichen u. der versprochene Entscheidungsbesuch noch immer nicht gekommen war. Er befürchtete bereits, Messerode sei entweder ein stolzer Mensch, oder ein leichtsinniger u. machte sich allerlei Gedanken darüber.
[Seite]Diese Gedanken aber waren zumeist unrichtig.
Von Messerode war ein braver u. liebenswürdiger Mensch; ein Mann von Geschmack u. Bildung, von Ernst u. Gehalt, aber er hatte eine entschiedene Abneigung gegen Vernunftheiraten, gegen alles vorherbestimmte u. geschäftsmäßig Eingeleitete. Die ganze Sache erschien ihm philisterhaft u. war ihm unsagbar lästig.
Er hatte noch keine Lust sich zu vermälen u. daß vielleicht zum größten Teile deshalb, weil er in der Residenz, da er in der Garde gedient, eine
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[Seite]junge Dame kennen gelernt hatte, die ihm daß Ideal eines Mädchens zu sein schien. –
Er wußte wol, daß er sich nicht um sie bewerben könne, weil sie so gut als die Braut eines andern war u. es wäre auch durchaus unrichtig gewesen, seine Schwärmerei für jene elegante, geistreiche Schönheit mit Liebe, oder Leidenschaft zu bezeichnen; aber es war eine jener kleinen, ehrgeizigen Schwärmereien, die es einem Manne schwer machen, gleichzeitig an eine andere Frau zu denken, welche vielleicht
[Seite]weniger schön u. weniger gefeiert sein könnte. In dieser Stimmung lebte Eduard v. Messerode auf seinem Gute ziemlich einsam; er jagte u. fischte, las u. studierte, zeichnete u. musizierte u. vergaß vollkommen den ganzen Kaufherrn u. sein Töchterlein.
Da erfuhr er eines Tages durch seinen Advokaten, daß Herr Schrotter bedeutende Verluste im Handel erlitten habe u. sehr betrübt darüber sei, indem er schon ziemlich bejahrt u. seine beiden Söhne noch sehr jung seien; indes daß [4] lange Jahre zum
[Seite]Hereinbringen der Verluste nötig wären u. hauptsächlich die so vielgewünschte Mitgift seiner Tochter dadurch um ein Bedeutendes verringert sei. –
Eine Stunde nach dem Eintreffen dieser Nachricht saß von Messerode in seinem Wagen u. fuhr nach M. vor das Haus des Kaufherrn.
Dieser empfing ihn mit Freude u. Rührung, führte ihn alsbald zu seiner Schwester, die seit dem Tod der Frau Schrotter das Haus verwaltete, stellte ihm seine jungen Söhne vor u. sandte eilends nach Brigitta, die irgendwo in
[Seite]in der Stadt zu Besuche war.
Das Haus Schrotter machte einen sehr behaglichen u. wolhabenden Eindruck u. war mit Geschmack eingerichtet, so daß von Messerode bald fülte, es könne hier nicht von einer merklichen Verarmung die Rede sein.
Wenn eben ein sehr reicher Mann ein bisschen weniger reich wird, so lässt sich dies nicht so schnell von außen her bemerken u. Schrotter´s war ein solides wolgeordnetes Haus.
Der Kaufherrn aber verstand gar gut, warum
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[Seite]von Messerode so plötzlich [5] gekommen u. es gefiel ihm dies sehr wol. –
Sonst aber war er ein bisschen erschreckt durch seines künftigen Schwiegersohns Wesen.
Er hatte einen jungen Menschen erwartet, der vielleicht ein bisschen eitel u. ein wenig locker war, aber leicht bestimmbar u. gemütlich, wie es der Vater gewesen, u. er fand nun einen ernsten, festen Mann, der ihm gebieterisch u. wälerisch erschien u. ihm doch jene leichten eleganten Weltformen hatte, welche einen schlichten Mann so schnell aus der Fassung bringen.
[Seite]Zudem sprach Messerode gar nicht über den Zweck seines Besuches u. frug nicht mit einem Worte nach der Tochter des Hauses.
Schrotter bangte für die erste Begegnung u. wol machte er bangen: sie fiel sehr ungünstig aus. –
Brigitta war eilends herbeigeholt worden u. ehe sie in den Salon trat, wurde ihr gesagt, daß Messerode sehr stolz aussähe [6].
Sie war daher sehr befangen, konnte kaum sprechen u. als sie Messerode die Hand reichte u. zu ihm aufsah,
[Seite]konnte sie es in jedem seiner Züge lesen, daß sie ihm keinen angenehmen Eindruck mache, daß sie ihm nicht gefalle.
Das junge Mädchen war hübsch, war schön zu nennen; sie hatte blondes Haar u. blaue Augen, war mittelgroß u. schlank, hatte regelmäßige Züge u. einen freundlichen intelligenten Ausdruck, aber sie sah so übermäßig zart u. schwächlich, so schüchtern u. fassungslos aus, als sie vor dem großen fremden Mann stand, daß sie ihm gar nicht gefiel u. ihm neuerdings das Lied jener brillanten jungen Dame aus der
[Seite]großen Welt zum Vergleich vor die Seele rief. –
Brigitta fülte den ungünstigen Eindruck, den sie gemacht u. konnte nun vollends ihre Befangenheit nicht überkommen.
Sie blieb still den ganzen Abend u. schüchtern u. zurückhaltend die nächsten Tage. u. Messerode gab es bald auf, klug aus ihr zu werden.
Er konnte allerdings die Bücher, die er auf ihrem Tische fand, die Bilder die sie gemalt, u. den Geschmack, der im Hause herrschte, nicht mit ihr u. ihrem Auftreten
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[Seite]Vereinen, aber weil er kein Interesse für sie empfand, gab er sich keine besondere Mühe, sie zu verstehen.
Er fing an, sich zu langweilen, spielte mit den beiden Knaben, den Söhnen Schrotter´s u. fuhr mit diesen auf die Jagd, denn der Kaufherr liebte noch immer das edle Waidwerk u. hatte einige Jagden zu veranstalten gewußt, um seinem Gaste u. zugleich sich selbst ein Vergnügen zu verschaffen.
Es lag schon viel Schnee draußen in Wald u. Feld u. als die Gesellschaft von einer dieser Jagden
[Seite]Heimkehrte, fuhr Messerode auf seinem kleinen Einzelschlitten nach Hause u. kam dadurch unbemerkt den andern weit voraus.
Der junge Mann war tief verstimmt; es tat ihm leid, den alten, gemütlichen Kaufherrn ohne Erfüllung des Heiratswunsches zu verlassen; es tat ihm fast leid für sich selbst, wieder allein auf sein Gut zurückzukehren u. weiß Gott welchem anderen Schicksale entgegenzugehen u. doch mochte er sich u. andere nicht täuschen u. nicht eine Frau nehmen, die ihm kein Interesse,
[Seite]keine Liebe einflößen konnte.
So fuhr er dahin auf dem kleinen Schlitten, immer schneller, u. immer ernster werdend, u. während [7] die rauhe Abendluft brannte ihn in Gesicht u. Augen brannte [8]. Er kam lange vor der übrigen Gesellschaft, u. ehe noch [9] irgend einer von den Jüngern erwartet wurde, vor Schrotter´s Haus an. er Er trat in den Salon, der hell erleuchtet war, so daß er – aus Kälte u. Dunkelheit kommend – die Augen fast nicht offen halten konnte. Recht behaglich warm war´s in diesem Salon; ganz
[Seite]still u. doch dennoch aber [11] so wohnlich; u. als Messerode langsam umhersah, bemerkte er Brigitta, die auf einem Sofa lag u. fast schlief. Sie atmete ruhig u. tief; u. sein Eintreten hatte sie nicht erweckt.
Unwillkürlich hielt er den Atem an sich u. jene ehrfurchtsvolle Rücksicht überkam ihn, welche den Anblick von Schlafenden immer mit sich bringt u. welche bei diesem zarten Kinde umso natürlicher war.
Langsam u. behutsam näherte er sich dem Sofa u. ließ sich leise auf einem nebenstehenden Lehnstuhl nieder.
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[Seite]Da lag das Mädchen, offenbar mit dem Buche in der Hand eingeschlafen, während sie es die rückkehrende Jagdgesellschaft erwartet hatte. Das Buch lag geöffnet auf dem Boden neben dem Sofa u. Brigitta hatte die Hände fest an einander geschlossen, den Kopf leicht zur Seite geneigt.
So lieblich u. kindlich sah sie aus, daß Messerode ganz erstaunt auf sie blickte u. diese kleinen, fest geschlossenen, so niedlich über einander gelegten Händchen erschienen ihm so reizend, wie er nie
[Seite]zuvor etwas gesehen.
Lange schaute er auf die Schlafende u. konnte es nicht begreifen, daß er bis jetzt die feinen, regelmäßigen Züge, die hübsche Gestalt des Mädchens nicht bemerkt gehabt, daß ihm diese lieben kleinen Hände nicht aufgefallen waren. Er frug sich nicht, ob es denn recht getan wäre, daß er dem Mädchen schlafen zusähe; stand es ja doch nun bei ihm Brigitta stündlich zur Gemalin zu begehren u. mit ihr heimzuziehen; so fand er es denn auch viel besser u. schick-
[Seite]licher, daß er über ihrem Schlaf wache, als daß ein andrer u. fremderer aus der Jagdgesellschaft sie hier so träfe!
Der Schlaf ist ein rührendes Geheimnis u. der Blick auf junge, schöne Menschen im Schlafe, auf das hilflose, unschuldsvolle, unbewusste Ruhen stimmt so reich u. liebevoll, mild u. treu! Dem jungen Manne wurde es so wol u. so ahnungsvoll glücklich zu Mute, daß er hätte niederknieen u. diese kleinen Hände küssen mögen.
[Seite]Da fing Brigitta an, sich zu wegen u. frug im Halbschlafe: ‚Max, bist du da?‘ Sie griff nach Messeroden u. suchte zweifelsohne nach ihrem Bruder. Messerode erfasste ihre Hand, küsste dieselbe u. sagte leise: ‚Nein, Brigitta, ich bin es.‘
Erschreckt richtete sie sich auf, hielt ihren Kopf an beiden Schläfen fest u. sah so komisch verschlafen u. zugleich so unendlich niedlich darin, daß Messerode in Lachen ausbrach u. ihr zurief: ‚Verzeihen Sie, liebes Kind, daß ich Ihrem Schlafe zusah; Sie waren gar
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[Seite]So lieblich u. nur ich habe Sie gesehen, sonst niemand.‘
Brigitta errötete tief, aber wol mehr über den veränderten Ton in dem er zu ihr sprach, als über den Sinn der Worte, den sie kaum verstanden hatte.
Sie stand auf, legte ihr Buch zurecht, sah Messerode groß an u. sagte endlich, wie zu sich selbst: ‚Was werden Sie gedacht haben?‘ ‚Soll ich Ihnen sagen, was ich gedacht habe?‘ frug Messerode schnell u. lebhaft, aber Brigitta rief: ‚Nein, nein‘, u. lief davon.
Als Messerode nach dem
[Seite]Buche langte, daß Brigitta gehabt hatte, u. es öffnete, fand er in einer deutschen Erzählung eine Stelle angestrichen u. dieselbe Stelle auf einem kleinen Zettelchen, welches als Merkzeichen in dem Buch lag, kopirt.
Es waren die Worte: ‚Wie bitter ist es, zu fülen, daß wir den Menschen einen üblen Eindruck machen, die uns gefallen u. denen wir auch gefallen möchten. Unser ganzes Wesen drängt sich schon in unser Inneres zurück u. wir können nicht mehr aus uns selbst heraus, um jenen ersten Eindruck zu verwischen, so gern wir
[Seite]es möchten.‘
Ganz frisch u. schwarz sahen die Bleistiftzeichen aus; der Stift lag noch auf dem Sofa; erst in diesen letzten Stunden mußte Brigitta diese Worte abgeschrieben haben u. ihr eigenes Fülen vielleicht damit gezeichnet. Messerode schwindelte es vor Jubel; er blickte klar in des Mädchens Seele; er wollte sie rufen u. festhalten u. musste sich nun bescheiden, weil in diesem Augenblick die übrige Jagdgesellschaft eintrat.
Wie im Träume begrüßte von Messerode die andern; er vergaß die ganze Welt um sich her; er vergaß daher auch die alte Tante
[Seite]u. bot Brigitta den Arm, als sie alle zum Abendessen gingen.
Während der verschiedenen Jägererzählungen schlich Brigitta in den Salon, um ihr Buch zu suchen. Messerode folgte ihr nach, hielt sie fest u. frug nochmals: ‚Wissen Sie, was ich dachte, als ich Sie schlafen sah? Daß ich Sie auf meine Arme nehmen u. in mein Schloss tragen möchte; u. wissen Sie, wo Ihr Buch ist? Auf meinem Herzen. Brigitta, weißt du, was ich nicht vergessen u. nicht verlieren kann? Weißt du, was mir mein Lebensglück gebracht? Diese zwei kleinen Hände!‘“
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[1] Annotation in Blei.
[2] Annotation in Blei. [3] Im Druck: „Der“. [4] Annotation in Blei. [5] Im Druck: „so schnell“. [6] Im Druck: „aussehe“. [7] Annotation in Blei. [8] Annotation in Blei. [9] Annotation in Blei. [10] Annotation in Blei.